Hinweis:
Da es sich hier um ein
Vorlesungsskript handelt, bitten wir um Nachsicht bei den ab und an
auftretenden Lücken und Unvollständigkeiten bezüglich
der Literaturangaben und Zusatzmaterialien. Wir versuchen dieses Manko,
soweit es uns möglich ist, zu beheben. In diesem Sinne wünschen
wir ihnen dennoch viel Vergnügen bei der Durchsicht des Textes.
Die Spielregeln
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"Archaisch" ist abgeleitet von griechisch
archê, "Anfang", und repräsentiert mithin einen
ambivalenten Begriff, dessen Verständnis ganz davon abhängt,
was Einer unter "Anfang" versteht. Ein Altphilologe wäre
geneigt, unter archaischer Kosmologie die trümmerhaften Reste
der jonischen Naturphilosophie zu verstehen, Keilschrift Sachverständige
tendieren dahin, die sumerische Tradition für archaisch zu erklären,
Ägyptologen Texte aus der Pyramidenzeit. Wir wollen unter archaischer
Kosmologie die frühesten, wo auch immer aufzuspürenden Zeugnisse
für einen Kosmos verstehen. Was nicht heißt, daß
wir uns nur mit den allerfrühesten beschäftigen wollen.
Kosmos ist, wie archê, ein griechisches
Wort und indiziert "Ordnung", richtige Einrichtung; das
Verbum kosméô bedeutet, ein Heer in der angemessenen
Schlachtordnung aufzustellen. Kosmos meint das Weltganze im Sinne
eines Organons, innerhalb dessen alle Vorgänge gemäß
aufeinander abgestimmten Regeln ablaufen, d.h. alle Teilvorgänge
innerhalb des Weltganzen sind abhängig voneinander, wie sich
das für ein Organon schickt. Einen Kosmos in dem spezifisch strengen
Sinne, wonach alles und jedes nach Maß, Zahl und Gewicht numero,
mensura, pondere geregelt ist, finden wir, soweit sich das bis jetzt
feststellen läßt nur im sogenannten Hochkulturgürtel,
also im alten Mesopotamien und Ägypten, in Iran und Alt Indien,
in China und der mittelamerikanischen Hochkultur. Chronologisch besagt
dies, daß der Kosmos stricto sensu, nämlich der "mathematische"
Kosmos, um etwa 4000 v.Chr. konzipiert worden ist. Wenn wir Kosmos
in einem weiteren Sinne fassen, und das meint, wenn wir nicht auf
mathematischer Rigidität bestehen, sondern nur fordern, die Welt
solle als ein Ganzes verstanden worden sein, dessen Teile abhängig
voneinander funktionieren, so kommen wir in viel ältere Zeiten
zurück, nämlich in die jüngere Altsteinzeit, das Jungpaläolithikum,
auch Mittelsteinzeit geheißen, d i e Zeit, in der die Felsbilder
von Altamira, Lascaux, Les Combarelles etc, gemalt worden sind.
Wie kann man derlei eruieren, wie lassen sich
so kühne Behauptungen plausibel machen, wenn sie schon nicht
realiter zu "beweisen" sind? Um diese grundlegende Frage
zu beantworten, müssen wir ein wenig weiter ausholen, deutlicher
gesagt, wir müssen ein paar Lockerungsübungen veranstalten,
um Ihren Gedanken zu der wünschenswerten Flexibilität zu
verhelfen, noch deutlicher gesagt, Sie müssen die Spielregeln
zur Kenntnis nehmen, die das kosmologische Rekonstruktions Spiel überhaupt
möglich machen. Regeln und Gebot sind meistens V e r bote, und
mit unseren Spielregeln verhält es sich genau so; sie untersagen
eine ganze Reihe von Denkgewohnheiten und Überzeugungen, die
Ihnen, dank der von Ihnen genossenen Erziehung, schlechthin "natürlich"
vorkommen, weswegen Sie sich ihrer garnicht bewußt sind. Und
hier sind sie:
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§ 1. "Du sollst nicht",
bzw, Sie sollen nicht wähnen, Ihre fernen Vorväter - ob
es sich um die Maler von Altamira oder um die Begründer der Hochkultur
handelt - seien von geringerer Intelligenz gewesen, als Sie selbst
es sind, und Sie sollen sich nicht einbilden, einzig durch das Verfließen
von Zeit seien Sie "bigger and better" scientists als Aristoteles
oder Archimedes und deren Vorläufer. Die Zeit ist keine Rolltreppe,
die jeden heutigen Erstklässler automatisch auf das Niveau des
Aristoteles transportiert, vielmehr bleibt Aristoteles fürderhin
ein so gewaltiges Phänomen, wie es in unseren Tagen äußersten
Falles Einstein repräsentiert. Sie sollten sich an Stelle dessen
vergegen-wärtigen, daß es allemal geniale Naturwissenschaftler
waren, die den angemessen Respekt für unsere intellektuellen
Vorfahren an den Tag gelegt haben, wie z.B. eben der Aristoteles,
wie Galileo, Kepler, Newton und, in neuerer Zeit, wie Helmholtz und
Schroedinger. Solche big shots wissen nämlich, wie schwer es
fällt, die sog ."Natur" zu erforschen, die jeweils
adaequaten Beobachtungen zu machen und die richtigen Fragen zu stellen,
während Philologen und Historiker und, ärger noch, Psychologen
und Soziologen, ungetrübt von jeglicher Sach- kenntnis,
Einfaltspinsel oder promiskue Kannibalen an den Beginn unserer Kultur
projizieren. Sie mögen einwenden, Sie hätten derlei nie
verübt. Vielleicht haben Sie das tatsächlich nicht getan;
Ihr Unterbewußtsein tut es Tag für Tag, womöglich
ohne Ihr Zutun und sogar gegen Ihre Absicht. Was nicht Wunder nimmt,
da Sie in gleichwelchem Lehr - und Handbuch fortwährend dahingehend
belehrt werden X sei "einfacher" als Y, "primitiver"
als Y, folglich sei X älter. Diese und ähnlich unzulässige
Schlüsse sind gang und gäbe, seitdem im letzten Jahrhundert
die Kulturphilosophen und Kulturhistoriker in Bausch und Bogen das
strikt biologische Schema von der Evolution der Organismen sich aneigneten,
um es ohne Hemmung auf die Geschichte der Kultur der einen unveränderten
Gattung homo sapiens anzuwenden. Es bleibt zwar unbegreiflich, daß
sich keine Protest-Stürme erhoben haben, als solcher Unfug angezettelt
worden ist, aber es ist tatsächlich an dem: die massivsten Denkfehler
werden am allerleichtesten übersehen.
§ 2. Gewöhnen Sie sich, eingedenk
des § 1" ganz besonders ab" naturwissenschaftliche
Meisterleistungen zu unterschätzen. Der unleugbare Umstand, daß
Sie mit zahlreichen solchen Meisterleistungen seit dem ersten Schuljahr
oder sogar seit dem Kindergarten vertraut sind, stempelt diese Errungenschaften
und Erkenntnisse keineswegs zu "angeborenem", "natürlichen"
oder "naheliegendem" Wissen, handle es sich um die Schrift,
das Dezimalsystem, um Techniken wie Töpferei und Spinnerei, um
Saiteninstrumente, Metallurgie, Ackerbau und vieles andere mehr.
Da jede Münze zwei Seiten hat, seien Sie
gleichzeitig davor gewarnt, die wissenschaftliche Neugier des Normalverbrauchers
aller Jahrtausende zu überschätzen. Der homo scientificus
ist eine äußerst rare Subspecies der, spaßiger Weise,
"homo sapiens" getauften Gattung, und an diesem betrüblichen
Befund werden auch weitere 500 neu zu gründende Universitäten
nichts ändern; das progressivste Labor mit den raffiniertesten
Apparaturen verwandelt keinen einzigen schlichten homo sapiens in
einen homo scientificus. Die Apparatur verhilft dem, der recht zu
fragen weiß, zu passenden Antworten; mitnichten inspiriert sie
gleichwelchen Otto Normalverbraucher zu sinnvollen Fragen. Dies aber
nur nebenbei.
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Am folgenschwersten für die Bewertung
und das Verständnis alter Kosmologie war und ist die Verkennung
astronomischer Wunderleistungen. Wo immer Sie nachschlagen, wird Ihnen
in mehr oder weniger poetischen Worten versichert, dem prähistorischen
Ritzenschieber, dessen Auge sich sinnend an den "gestirnten Himmel
über ihm" heftete, hätten die Planeten, sieben Stückg
praecis schlechterdings nicht entgehen können, Sternbilder hätten
sich ihm quasi aufgedrängt und dgl. mehr. Woher die Lehrbuch.Autoren
wissen
a) daß der paläolithische oder neolithische kleine Moritz
seine Augen sinnend erhob,
b)daß ihm dieses oder jenes nicht entgehen konnte, das bleibt
freilich unerfindlich. Der Lehrbüchverfasser selbst hat solches
jedenfalls nicht unternommen. Hätte er's getan, würde er
keinen so unerhörten Unsinn zu Papier gebracht haben.
Auf Grund so nebuloser Vorstellungen vom Zustandekommen
astronomischer Erkenntnisse wird unter den sog. Experten noch heute
darüber gestritten, was denn wohl älter sei, die Astronomie
oder die Astrologie; eine der jüngsten Antworten auf diese Frage
laute sie seien gleich alt, und beiden liege zu Grunde der "Glaube
an die Göttlichkeit der Planeten". Um die totale Unzulässigkeit
dieser sog.Antwort sichtbar zu machen, bedarf es der Einführung
des
§ 3. Es ist verboten, sich dem
Wahne hinzugeben, früher sei es mit dem Denken anders hergegangen
als heute. Erst wird man, wenn man ein gewitzter Knabe ist, auf ein
Phänomen aufmerksam, dann erklärt man es versuchsweise mit
einer oder mit mehreren denkbaren Hypothesen, dann beobachtet man
das Phaenomen systematisch, alsdann baut man ein ernstzunehmende Theorie
und formuliert Lehrsätze.Wenn diese Theorie erst einmal steht
und für gut befunden wurde" findet sich ein Heer von Unberufenen,
das die akzeptierte Theorie in irgendeine scheußliche Praxis
umsetzt; immer aber kommen die Anwender später. Zu deutsch: den
stetig wiederholten Behauptungen, denen zufolge "Priester"
oder "Magier" für die alte Astronomie, bzw. Kosmologie,
verantwortlich zeichnen, liegt die unsinnige Überzeugung zugrunde,
früher seien alle Denkprozesse pfeilgrad umgekehrt verlaufen.
Beispielsweise versichert man Ihnen gerne,
die 7- 9 sogenannten Himmels-"Schichten", die von sibirischen
Schamanen erstiegen werden, seien älter als die Planetensphären
der babylonischen Astronomie, aber keiner der nassforschen Versicherer
wäre Imstande, irgendeinen zureichenden Grund dafür anzugeben,
daß die Schamanen auf eine so absonderliche Idee verfielen;
der Himmel sieht, beim Kronos, nicht so aus, als bestünde er
aus "Schichten". Die Konzeption konzentrischer Kugeln oder
Kreise wird nur möglich, wenn Sie
1) die Planeten ausfindig gemacht, 2) ihre Umlaufszeiten ermittelt,
3) sich dazu entschlossen haben, anzunehmen, sie alle liefen im gleichen
Tempo um. Nur unter dieser Voraussetzung können Sie zu dem Schluß
kommen, Saturn mit seiner Umlaufszeit von rund 30 Jahren müsse
sehr viel weiter entfernt sein von der Erde als Mars mit seinen rund
2 Jahren, nun gar der Mond mit seinen rund 30 Tagen.
b4
Zu deutsch: strikt astronomische Erkenntnisse,
gewonnen auf Grund systematischer Beobachtung und ingenieuser Hypothesen
und Schlußfolgerungen sind die Voraussetzung für mehr oder
minder nebulose "Glaubens"- Lehren wie eben die von den
diversen Himmelsschichten, und ganz allgemein: gleichwelche Astrologie
setzt solide astronomische Kenntnisse voraus, das ist schlechterdings
denknotwendig, weil wir, wie nicht oft genug betont werden kann, es
ab dem Jungpaläolithikum mit unserer ureigenen Spezies homo sapiens
zu tun haben.
Irreführender noch: die Lehrbücher
lieben es, "Zwecke" zur Ursache von Entdeckungen und Erfindungen
zu machen. Die Erfindung des Ackerbaues etwa, so lesen Sie wieder
und wieder, habe einen gut funktionierenden Kalender notwendig gemacht.
Sie werden gebeten, sich dieses Ereignis leibhaftig vorzustellen.
Da waren denn also "Primitive" zugange, die bislang außerstande
gewesen waren, die Längen von Monat und Jahr ausfindig zu machen.
Als der Ackerbau erfunden war - natürlich dank des deus ex machina,
genannt Evolution - versammelten sich Priester und Medizinmänner
und bekundeten ihren Entschluß, es sei nunmehr höchste
Eisenbahn, einen passenden Kalender auszuarbeiten. Man wüßte
ja gerne, was die Herren auf die Tagesordnung gesetzt haben: "Erfindung
des Kalenders" vielleicht? Woher konnten sie wissen, daß
es dergleichen gibt, von wannen kam ihnen das passende Wort, und was
befugte sie zu dem Vertrauen, solch Kalender würde dem Ackerbau
förderlich sein? Und, so fragt man sich, wie konnte der Ackerbau
überhaupt stattfinden, bevor sich die priesterlichen Einfaltspinsel
zur Anfertigung eines bisher unbekannten Zeit-regelnden Instrumentes
aufrafften, aus dem sich dann angeblich die Astronomie soll entwickelt
haben, w e n n ein Kalender wirklich von so entscheidender Wichtigkeit
für die Agrikultur sein sollte. Was er natürlich nicht ist;
ein fixierter Kalender ist wichtig zum Eintreiben von Steuern.
Ähnlich dummdreiste Behauptungen sollen die Erfindung der Metallurgie
erklären. Die wird gerne hergeleitet aus dem Bedürfnis nach
stärkeren Waffen und tauglicheren landwirtschaftlichen Geräten.
Sobald Sie solch allgemein akzeptiertes Prinzip zur Erklärung
heutiger, Ihnen vertrauter Vorgänge heranziehen, gewahren Sie
dessen ganze Unsinnigkeit. Ein Beauftragter der Rüstungsindustrie
wäre demnach bei Otto Hahn aufgekreuzt und hätte gesagt:"Sie,
hör'n Se mal, wir brauchen Atombomben", worauf Hahn erstmalig
auf den Gedanken verfiel, sich mit dem Innenleben von Atomen zu beschäftigen.
Sie möge sich auch ausmalen, das ganze Regierungs- und Wirtschaftssystem
der Sowjet Union sei just so, von der Evolution hervorgebracht worden,
und eines Tages hätte der Oberste Sowjet beschlossen, Karl Marx
und Friedrich Engels mit der Anfertigung einer in das System eingepaßten
Philosophie, speziell einer adäquaten Geschichtsphilosophie zu
beauftragen. Weitere Absurditäten können Sie sich selbst
ausdenken.
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§ 4. untersagt die Anwendung unpräziser
Worte generell, in allererster Linie solcher Bezeichnungen wie Religion,
Priester, Schamane, Fetisch, magisch, numinos, mystisch und natürlich,
Symbol, symbolisch usf.. Weil Sie sich nämlich unter keinem dieser
Worte etwas Konkretes, sauber Definiertes vorstellen; bestenfalls
beschleichen Sie "dunkle", wenn nicht gar "tiefe"
Ahnungen und Empfindungen, wenn Sie solche Worte hören. Religion
speziell ist darum ein so irreführender Begriff, weil wir nolens
volens "0ffenbarungsreligion" assoziieren und anheben, mit
den Verben "glauben" und "glauben an" herumzuwirtschaften.
Weder Offenbarung, noch "glauben an" haben etwas mit archaischer
sogenannter "Religion" zu schaffen. Die Religion alter Kulturen
ist angewandte Kosmologie. Daß dergleichen Sprach-schlampereien
kontinuierlich verübt werden, ist die Folge der Nichtberücksichtigung
des
§ 5. Halten Sie sich bewußt,
daß sich mathematische, astronomische, physikalische usw. Probleme
nicht so mir nichts dir nichts formulieren lassen, sondern ausschließlich
mittels einer technischen Sprache, einer ausgearbeiteten spezifischen
Terminologie. Das ist keinesfalls abgefeimte Tücke moderner Naturwissenschaftler,
sondern liegt in der Natur der Sache beschlossen. Eine wissenschaftliche
Fachsprache zu prägen, ist je doch alles andere eher denn eine
Lappalie, eine Einsicht, die Ihnen eigentlich geläufig sein sollte;
es sei denn, Sie hätten, sich noch nie darüber gewundert,
daß alle unsere Wissenschaften griechische Namen tragen, daß
unser Schulunterricht in Geometrie in wortwörtlichen Übersetzungen
des Euklid besteht. Die Griechen haben Naturwissenschaf und Philosophie
schwerlich erfunden, aber sie haben das Wunderwerk vollbracht, das
sprachliche Vehikel zu erarbeiten, mittels dessen sich mathematische,
akustische, physikalische, astronomische etc. Phänomene beschreiben
und definieren lassen. Wenn Sie Näheres über diesen Prozeß
der Prägung der Fachsprache erfahren möchten, rate ich ihnen,
sich gelegentlich in das opus von Arpad
Szabó zu vertiefen: "Anfänge der griechischen
Mathematik" (München: Oldenbourg 1969).
Sobald Sie sich der Unabdingbarkeit einer Fachsprache
bewußt geworden sind, werden Sie aufhören, über Formeln
und Sprachbilder hinwegzulesen, wie das die Schriftgelehrten zu tun
pflegen, vielmehr auf Fachjargon gefaßt sein, auch wenn er total
anders ausschaut oder sich anders anhört als der heutige, an
den wir gewöhnt sind. Sie werden dann z.B nicht mehr sagen: die
alten Inder, oder wer auch immer, glaubten nämlich, die Erde
sei rechteckig, sondern Sie werden vorziehen zu sagen: altindischer
Formulierung gemäß ist die Erde rechteckig, und sich dann
daran machen, herauszufinden, was denn da formuliert worden ist. Bei
der rechteckigen Erde handelt es sich um die gedachte Ebene durch
die Jahrespunkte, also um einen Ausschnitt aus der Ekliptik-Ebene,
begrenzt durch die Konstellationen, die an den beiden Äquinoktien
und den beiden Solstitien heliakisch aufgehen.
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Sie begreifen, denke ich, wie gründlich
Sie sich den Weg zu jeder Einsicht verstellen, wenn Sie allemal auf
das verkehrte Verbum "glauben" ausweichen, sobald Sie nicht
verstehen, wovon jeweils die Rede ist; und Sie begreifen, daß
die Neigung, eben dieses Verbum zu benutzen, eine logische Folge des
Glaubens - hier paßt das Wort -, des Glaubens an kulturelle
Evolution sei: der absurdeste Nonsense ist immer noch gut genug, um
ihn unseren fernen Vorvätern als "Glauben" in die Schuhe
zu schieben. Haben Sie sich erst einmal daran gewöhnt, an Stelle
dessen das Verbum "formulieren" zu verwenden, so
lernen Sie langsam aber sicher, die richtigen Fragen zu stellen. Was
beileibe nicht heißt, daß sich die richtigen Antworten
prompt finden ließen, nur allzu oft tun sie das nicht.
Die gemeinte Fachsprache der Kosmologie ist,
wie Sie im Zweifelsfall längst erraten haben, der Mythos, Bei
dem Umgang mit dem mythischen Jargon sind nun aber weitere Gesetzesparagraphen
zu berücksichtigen, deren wichtigster lautet:
§ 6. Thou shalt not commit Euhemerism.
Sie sollen sich nicht so dumm anstellen wie der griechische Professor
Euhemeros aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, nach den eine
besondere Art der Mythen-Interpretation getauft worden ist. Euhemerismus
nennt man die Theorie, dergemäß alle Figuren des Mythos,
Götter, Heroen etc. ursprünglich verdienstvolle homines
sapientes gewesen sein sollen, die von dankbaren Nachfahren im nachhinein
"vergöttlicht" wurden. Der wackere Plutarch hat in
seinem Buch über Isis u Osiris dem Finsterling Euhemeros schon
frühzeitig die gehörige Abfuhr erteilt, aber die plattesten
Theorien sind meistens die populärsten, und so lebt der Euhemerismus
fort und fort. Ich möchte den Begriff Euhemerismus hier erweitern.
Lassen Sie uns unter Euhemerismus jedwede Theorie verstehen, die den
Mythos als Geschichte im weitesten Sinne interpretiert, d.h. jede
Theorie, die Mythen als Berichterstattung über singuläre,
ein einziges Mal nur stattgehabte Ereignisse deutet. Auf diese Weise
können wir nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen,
die Euhemeristen im engeren Sinne und die Katastrophen-Apostel, unter
denen Velikovsky
am meisten von sich reden machte und das in Amerika auch weiter tut,
weil, um es zu wiederholen, die plattesten Theorien nun mal die er
folgreichsten sind. Nicht etwa, daß auch nur der geringste Zweifel
daran bestehen könnte, daß es innerhalb und außerhalb
des Planetensystems Katastrophen jeden erwünschten Ausmaßes
gegeben hat: der Mythos indessen nimmt von ihnen keine Notiz. Der
Mythos erzählt die Struktur des Kosmos, er handelt ausschließlich
von periodisch wiederkehrende Phänomenen; singuläre Geschehnisse
spielen keine Rolle, seien es Naturkatastrophen, sei es das Auftreten
herausragender Individuen. Die "Funktion", wenn ich so sagen
darf von Naturkatastrophen und von menschlichen Abenteuern und Unternehmungen"
ist, daß sie die Sprachbilder hergeben, deren sich der Mythos
bedient" um den Kosmos darzustellen, M.a.W. die archaische Fachsprache
ist, anders als unsere Formeln, aus der täglichen Umgangssprache
abgeleitet. Planeten werden geboren, heiraten, geraten auf Abwege,
ziehen in den Krieg, sterben und dgl.. Katastrophen und Erdbeben dienen
zur Ausmalung der Wirkungen der Präzession der Äquinoktien.
Eben dieser Umstand hat, beinahe zwangsläufigläufig, zu
den vielen Fehl-Interpretationen des Mythos geführt.
b7
Die Einwände, die Ihnen auf der Zunge
liegen, sind mir nicht unbekannt. Raffen Sie aber zunächst Ihren
common sense zusammen und besinnen sich auf normale, empirische Menschenkenntnis.
Behält der homo sapiens tatsächlich Naturkatastrophen und
Kriegsereignisse im Gedächtnis? Sie können mit eigenen Augen
und Ohren tagtäglich beobachten, daß ihm das gar nicht
einfällt; ganz im Gegenteil, er scheut keine Mühe, jedwede
Katastrophe so schnell wie nur eben möglich zu vergessen. Erinnern
Sie mich nicht mit erhobenem Zeigefinger an das Erdbeben von Lissabon
1755. Davon lernen die Franzosen in der Schule, weil Voltaire erschüttert
war, und wir, weil der Knabe Goethe sich schwer betroffen zeigte;
beide sind Gegenstände der Literaturgeschichte, und weder mythische
Figuren noch Mythographen. Und wenn wir unter den zurecht so berühmten
Kathederblüten des Gothaer Studienrates Galetti (1750 1828),
deren eine lautet: "Ja, da darf man nur an den Vesuv denken,
um zu wissen, wann Plinius gelebt hat", so kann man nur sagen:
umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir wissen von dem Vesuv-Ausbruch
vom Jahre 79 n.Chr, weil wir im Gymnasium gelernt haben, daß
Plinius bei dieser Gelegenheit zu Tode gekommen ist. Weder das Faktum
vom Tode des Plinius, noch der Umstand, daß wir solches im Gymnasium
gelernt haben, hat irgendwas mit Mythos zu tun. Der geradezu fürchterlich
folgenschwere Ausbruch des Krakatau im Jahre 1883 hat in keiner Mythologie
aller schwer betroffenen Südostasiaten gleichwelche Spuren hinterlassen.
Was historische Ereignisse anlangt, sei hier
ein casus erwähnt, der längst hätte genüg müssen,
um dem Euhemeros den Garaus zu machen. Es gibt nämlich wirklich
eine einzigartige Kombination, die erstrangige mythische Konsequenzen
hätte zeitigen müssen. Der einflußreichste "Weise"
des Abendlandes hatte, historisch verbürgt, einen zureichend
gewaltigen Feldherrn und Eroberer zum Schüler: Aristoteles nämlich
Alexander den Grossen. Das mythische Echo müßte uns schlechterdings
betäuben, wenn es ,rechtens' herginge im Sinne des Euhemeros.
In der Realität hingegen verhält es sich so, daß in
den beinahe unzähligen Versionen und Übersetzungen des sog.
Alexander-Romans der Aristoteles mitunter erwähnt wird, und daß
ein Romankapitel den Titel trägt "Brief Alexanders an Aristoteles
über die Wunder Indiens", aber im Roman sieht Aristoteles
diesem oder jenem Zadiq ähnlich, beileibe nicht dem Aristoteles.
Der Alexander-Roman verbindet seinen Helden mit Henoch, mit Elias,
Chadhir und anderen mythisch ausgewiesenen Persönlichkeiten;
es ist erstaunlich genug, daß der schiere Name des Aristoteles
in vielen Versionen erhalten geblieben ist. Und Alexander selbst hat
im Roman mit dem Makedonier Alexandros ungemein wenig zu tun: er ist
vielmehr ein aufgewärmter Gilgamesh.
Tatsächlich verhalten sich die Dinge in
Wirklichkeit umgekehrt, und nicht so, wie die Euhemeristen es haben
wollen: die mythischen Typen prägen weltliche und geistliche
Herrscher, insofern sie kontinuierlich die Kriterien zu deren Beurteilung
bereitstellen. Was ein eminenter Kaiser bestenfalls erreichen kann,
ist, daß für ein paar Jahrzehnte, ausnahmsweise sogar Jahrhunderte,
die fix und fertige Figur des "guten" Kaisers seine Namen
trägt, oder aber falls er ein Musterschurke war, daß der
erzböse Widersacher unter dem kaiserlichen Namen umläuft:
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in keinem Falle bleibt von dem Charakter des
wirklich gelebt habenden Individuums irgendetwas erhalten. Von "uns"
nimmt der Mythos beleidigend wenig Notiz. Das kränkt ja nun erst
mal, und in unserem Jahrhundert, in dem wir's doch so herrlich weit
gebracht haben, mehr denn je. Wenn das unappetitliche Innenleben auch
des letzten Ritzenschiebers Gegenstand von Dissgertationen und Bestsellern
ist, möchte man schließlich wohlrenommierten Kaisern ihr
Plätzchen am mythischen Kamin gönnen. Aber lassen Sie es
gut sein. Sobald Sie realisieren, daß der Mythos die kosmologische
Fachsprache war, werden Sie einsehen, daß auch der herausragendste
Kaiser, von Ramses bis Napoleon, schwerlich einen Vergleich aushalten
kann mit dem, dessen irdische Stellvertreter die Imperatoren sind:
dem Planeten Saturn, werde er nun Ptah geheißen, oder Enki,
Huang ti oder Yama, Tane oder Izanagi.
Möglicher- oder sogar wahrscheinlicher
Weise wird Ihr Haupteinwand in dem Hinweis auf den Trojanischen Krieg
bestehen, aber auch da muß ich Sie enttäuschen. Der Kampf
um Ilion war ein ausgemacht kosmischer Vorgang; er markiert das Ende
des vierten, des heroischen Weltalters des Hesiod, des Weltalters,
während dessen die Pleiaden das Frühlingsäquinoktium
regierten. Was nicht ausschließt, wohlgemerkt, daß ein
terrestrischer Krieg um die eine oder andere Schicht von Tepe Hissarlik
stattgefunden hat; jedem uranographischen topos oben entspricht ein
geographischer topos unten. Was indessen die antiken mythographischen
"Dichter" in zahlreichen Versionen abgehandelt haben, war
der kosmische, der uranische Krieg. Und das bringt uns zu dem vorläufig
letzten Gesetz:
§ 7. Unsere moderne Auffassung
von "Dichtung" und von Poeten ist auf alte Zeiten nicht
anwendbar; insbesondere nicht die, ein Dichter erfinde seine features
eigenköpfig, und es stehe, obendrein, völlig in seinem Belieben,
in welcher Form er sie dem Hörer anbiete. In Wirklichkeit haben
wir es nicht mit den Produkten freischaffender Phantasiebegabter zu
tun, die dann ein Dichter oder Barde dem anderen klaut, bloß
weil er sie hübsch findet oder publikumswirksam. Damit soll nicht
insinuiert werden, unsere Spezies ermangele der Phantasie; so arg
ist es nicht, und Künstler aller Sparten bedienen sich dieser
Gabe im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Mit anderen Worten, es gibt
mannigfaltige Stile und Stilmittel. Solches in Abrede zu stellen,
liefe auf dasselbe hinaus, wie wenn einer die Existenz und die Relevanz
allen Fleisches leugnen wollte und sich darauf versteifte, einzig
das Skelett sei der Beachtung wert. Solchen Unfug werden wir also
bleiben lassen. Da jedoch, umgekehrt, die Schriftgelehrten angesichts
so vielerlei blühenden Fleisches das Skelett nicht nur nicht
wahrnehmen, sondern dessen Existenz leugnen, muß hier dick
unterstrichen werden, daß hinter Epen und Tragödien,
hinter Siegelzylindern und Vasenbildern, Ornamenten, Tänzen,
Rennen und Brettspielen usw. ein kräftiges Skelett solider Fakten
steckt, und daß dazumal keine Nachfrage nach sog. freischaffenden
l'art Pour l'art Produzenten bestanden hat.
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Wenn Sie das erst einmal begriffen haben, brauchen
wir uns über die so häufig beschworene "mythenschaffende
Poesie", die angeblich der Volksseele mühelos entquillt,
garnicht erst zu unterhalten. Die Dichter alter Zeiten waren überaus
gelehrte, in der Astronomie bewanderte Leute. Desgleichen erübrigen
sich, hoffe ich, Schutzparagraphen wider die Mytheninterpretationen
der Psychoanalytiker, ob Freudscher oder Jungscher Prägung, oder
wider die schwachsinnigen, wennschon für den Autor höchst
einträglichen Emanationen des Herrn von Däniken. Daß
der letztere einen so globalen Erfolg für sich verbuchen kann,
ist ein prächtiger Gradmesser für die generelle Verdummung,
die der Evolutionismus gezeitigt hat: ehe unsere evolutionistisch
erzogenen Zeitgenossen einräumen, daß Ägypter, Mesopotamier,
Maya etc. mindestens so gescheit waren wie wir und nicht nur über
taugliche Ingenieure, sondern über sachkundige Astronomen und
Mathematiker verfügten, ziehen sie es vor, den Bau der Pyramiden
und dgl. auswärtigen Astronauten in die Schuhe zu schieben. Extragalaktische
Wundertäter werden instinktiv genialen Ägyptern vorgezogen;
denn wo bliebe andernfalls das erhebende Gefühl, es doch so herrlich
weit gebracht zu haben, und die beruhigende Aussicht auf unaufhaltsamen
Fortschritt zu besserem und besserem Leben?
Das kleinste gemeinschaftliche Vielfache der
Spielregeln ist die, wennschon ungehobelte Aufforderung, zu d e n
k e n , anstatt sich von den 1001 Klischess einlullen zu lassen, die
Ihnen Lehrbücher und unsere unterbelichteten Massenmedien andienen.
Wenn Sie sich kontinuierlich bewußt halten, daß
a) jedwede Kultur, mit der Sie sich befassen, ursprünglich von
Ihresgleichen, korrekter: von Proto-Einsteins, stammt und nicht von
Besitzern von Schimpansengehirnen,
b) daß Einsichten in gleichwelche Naturprozesse notwendiger
Weise in einer spezifischen Fachsprache formuliert werden müssen,
so sind Sie vor allergröbsten Fehlurteilen halbwegs gefeit.
Zu diesen Einsichten muß indessen noch
etwas deutlich gesagt werden, über das hinaus, was wir schon
festgestellt haben, daß es nämlich "naheliegende"
Entdeckungen und Erfindungen nicht gibt. Sind sie erst gemacht, kommen
sie männiglich "natürlich" vor, weil man halt
immer klüger ist, wenn man vom Rathaus kommt. Dieser Punkt ist
von besonderer Wichtigkeit, weil gerade das Nicht-Ermessen wissenschaftlicher
einmaliger Leistungen zur Konzipierung unhaltbarer Geschichtsbilder
geführt hat, zu einer Verkennung des Kulturgefälles und
letztlich zu dem heute vorherrschenden stupiden Optimismus oder, wie
Stanislav
Andreski (Social
Sciences as Sorcery, 1973) sich ausgedrückt hat, "the
advanced state of cretinization of our civilization" (p.17)(link2).
Sie können sich die, für den Kulturhistoriker und Naturwissenschaftshistoriker
folgenschwerste Miß-Konzeption selbst ausrechnen: wenn Sie erstrangige
naturwissenschaftliche Einsichten zu "angeborenen", "naheliegenden",
stempeln - denken Sie nur an den paläolitischen kleinen Moritz,
der seine Augen sinnend erhob, worauf ihm die Planeten nicht entgehen
konnten - wenn Sie also grundlegende Erkenntnisse für auf der
Hand liegende erachten, so halten Sie es beinahe für selbstverständlich,
daß alle Erfindungen und Entdeckungen unabhängig voneinander
zig mal gemacht worden sind, speziell unabhängig voneinander
in der Alten Welt und in Amerika. Ermessen Sie jedoch, wie überaus
rar neue Einsichten und neue Technologien sind, so werden Sie automatisch
zu einem sogenannten Diffusionisten.
b10
Wir wollen das so scharf wie möglich fassen,
ja wir müssen es tun, weil Ihnen häufig, bevorzugt in fatalen
Fernsehprogrammen, versichert wird, es gebe zwei "Schulen"
oder "Richtungen" zwischen denen man sozusagen frei wählen
könne, so als seien sie gleich viel wert und gleichberechtigt,
nämlich der Diffusionismus und die Lehre von der zig mal wiederholbaren,
unabhängigen Erfindung von Kulturelementen aller Schwierigkeitsgrade;
ich nenne diese Knaben bei dem, grammatisch natürlich unzulässigen,
Namen, "independent inventionalists". Der Diffusionismus
heißt in Deutschland "Kulturhistorische Ethnologie",
die independent inventionalists nennt man Social Anthropologists,
zuweilen auch Kulturanthropologen. Social Anthropologists sind unheilbare
Evolutionisten, meist ohne sich dessen bewußt zu sein: ihre
Aufmerksamkeit gilt ausschließlich dem gesellschaftliche Behaviour
des Nackten Affen, und so schrumpfen sie zu zweidimensionalen Kreaturen;
die historische Dimension liegt außerhalb ihrer Wahrnehmungsfähigkeit,
d.h. Geschichte ist für sie ein leeres Wort, eines, das keinerlei
"message" enthält, sondern nur "noise". Infolgedessen
sind sie ungemein erfolgreich und "in", denn keine Gedankenhürden
verstellen ihnen den Weg zu ihrem Ziel, dem hemmungslosen output tellerhafter
Publiktionen und der Ausbreitung ihres ekelerregenden Jargons. Wohingegen
es dem Kulturhistoriker obliegt, herauszufinden, wann und wo, in welchem
Kontext, ein bestimmtes Kulturelement, eine Verfahrensweise, eine
Entdeckung, Gestalt gewonnen hat, und auf welchen Wanderwegen einzelne
Kulturelemente oder aber ganze Kultureng sich rund um unseren Globus
herumgesprochen haben. Das ist ein ungleich schwierigeres und ein
zeitraubendes Unterfangen, weswegen es weniger Anklang findet. Öffentliche
Akklamation indessen, oder Ablehnung durch eine Mehrheit, besagen
nichts über die Richtigkeit, den Wert, den Wahrheitsgehalt einer
Konzeption; wissenschaftliche Theorien sind keine politischen Parteiprogramme,
die zur Wahl gestellt werden. Ihr Wahrheitsgehalt muß, anders
als in der Politik, überprüfbar sein; eine historische Theorie
muß eine einsehbare Erklärung für den gegenwärtigen
Zustand der verschiedenen Kulturen liefern.
Speziell muß sie eine Erklärung liefern für die sogenannten
"Ethnographischen Parallelen", d.h. die verblüffenden
Übereinstimmungen im Kulturinventar von weit von einander entfernt
lebenden Populationen. Wenn Sie von allen Ihnen über den Weg
laufenden ethnographischen Parallelen Verbreitungskarten anfertigen,
so werden Sie nach eine Weile bemerken, daß bestimmte Häufungen
von Übereinstimmungen auftreten, daß Sie etwa rechteckige
Giebeldachhäuser mit bestimmten Formen der Feldbestellung, mit
spezifischen Geheimbünden und Initiationsformen und mit matrilinearer
Erbfolge vergesellschaftet finden und dgl. mehr. Es besteht keinerlei
funktionale oder geographische Notwendigkeit zu solcher Vergesellschaftung:
Sie könnten genau die gleichen Agrikulturmethoden anwenden, wenn
Sie in Kuppeldachhäusern wohnten und einem patrilinearen Familiensystem
huldigten. Je mehr gemeinsame Faktoren, die funktional voneinander
unabhängig, und die von den geographischen Gegebenheiten nicht
diktiert sind, desto sicherer dürfen Sie sein, daß diese
Kulturen zusammenhängen, daß entweder die eine direkt von
der anderen abhängt, oder daß beide auf eine dritte zurückgehen.
b11
Unsere ethnologischen Großväter
und Väter haben sich der Anstrengung unterzogen, stattliche Mengen
solcher Verbreitungskarten auf die Beine zu stellen einige wenige
wackere Zeitgenossen tun dies auch heute noch und sie haben auf diese
Weise ein erdrückendes Beweismaterial für die Diffusion
zusammengetragen, d.h. erdrückend für jeden, der das Material
zur Kenntnis nimmt. Die Social Anthropologists ziehen es vor, das
Beweismaterial nicht zur Kenntnis zu nehmen, nach dem schönen
Motto: "My mind is made up, don't confuse me with facts".
Diese Vogelstraußpolitik trägt sicherlich zum seelischen
Wohlbefinden der obstinaten Zunft bei, aber sie darf schwerlich als
Beweis für die Lehre von den independent inventions akzeptiert
werden. M.a.W. von gleichberechtigten Schulen oder Theorien kann gar
keine Rede sein, sondern nur von einer richtigen Theorie, der der
Diffusionisten, und von einer falschen, der der independent inventionalists.
Da wir es hier
mit der Geschichte der Naturwissenschaften zu tun haben, die nicht
deckungsgleich ist mit der kulturhistorischen Ethnologie, noch auch
mit der vergleichenden Mythologie, und da wir uns an die oben angeführten
Gesetzesparagraphen halten, müssen wir zusätzliche Fragen
aufwerfen. Wir müssen nach dem S i n n von Institutionen und
Mythen fragen. Ich will nicht behaupten, Ethnologen und vergleichende
Mythologen stellten die Sinnfrage prinzipiell nicht, zuweilen tun
sie das, aber da ihr Unterbewußtsein nach wie vor evolutionistisch
reagiert, ist ihre Sinnerwartung minimal. Daher der große Erfolg
des multinationalen Fertility Kartells, will sagen, der Deutung gleichwelcher
Kulte als Fruchtbarkeitsriten, obwohl es jedem denkenden homo sapiens
in die Augen springen müsste, daß es sich bei besagten
Fruchtbarkeits-Riten um untaugliche Mittel zur Erreichung höherer
Ackererträge handelt, ein Umstand, der auch den sog. "Primitiven"
auf die Dauer nicht verborgen geblieben sein könnte. Aber Förderung
der Fruchtbarkeit, ob pflanzlicher, tierischer oder menschlicher,
scheint Ethnologen und Philologen der einzig denkbare zureichende
Grund für gleichwelche absurde Aufführung seitens der angeblich
so primitiven alten Völker zu sein. Zu Deutsch: die Primitivität
liegt allemal im Auge des Betrachters und nicht in den beobachteten
Phänomenen.
Kulturhistorischen Ethnologen und vergleichenden
Mythologen ist nicht entgangen, daß eine wahre Unzahl von sog.
Märchentypen und von mythischen Motiven sich in übereinstimmenden
Formen in allen Kontinenten nachweisen lassen, und sie setzen selbstverständlich
voraus, es habe eine historische Verbindung zwischen den Erzählern
der Märchen und den Benutzern der Mythen Motive bestanden. Dies
um so mehr, als die Mythen Motive beileibe nicht gleichmäßig
verbreitet sind, sondern nur in ganz bestimmten Kulturprovinzen in
diesem und jenem Kontinent. Im letzten Winter z.B. fanden wir genügend
Grund zur Verwundernis angesichts der merkwürdigen Verbreitung
der Motive vom Sonnenschlingenfang, Pfeilkette und Erd-Tauchen nach
der Sintflut.
b12
Der nackte Umstand, daß man "Motive"
oder auch "Mythologeme" nennt, was von Rechts wegen "Formeln"
heißen müßte, verrät die ganze Misere der komparativen
Mythologie; sie wagen es nicht, Formeln ins Auge zu fassen, nicht
nur, weil Formeln für ein Prärogativ der exakten Naturwissenschaften
gelten, und Wissenschaft darf nicht sein, sondern auch, weil der Begriff
"Formel" kategorisch verlangt, daß nach der Bedeutung
des in Formeln gefaßten Inhaltes gefahndet werde, nach einem
zureichenden Grunde für ihr Vorhandensein - zureichende Gründe
aber dürfen erst recht nicht sein. (Ich pflege die diesbezügliche
Geisteshaltung der Schriftgelehrten "Parzival Komplex" zu
nennen. Parzival wurde, wie Sie wissen, von seiner Mutter dazu anghalten,
auf keinen Fall jemals "warum" zu fragen). Infolgedessen
verfügen wir über eine Anzahl von durchnumerierten Indices
von Mythen Motiven und Märchen Typen (Antti
Aarne, Stith
Thompson, J.Balys u.a.), die fraglos nützlich sind, wenn
man der Verbreitung einer Formel nachjagt, aber man fragt sich doch,
was eigentlich damit gewonnen sei, solange es ganz im Dunklen bleibt,
warum und zu welchem Ende man sich in alter Zeit so unerhört
viele "Motive" zurechtgebastelt hat.
Ergänzung
zu Blatt 12:
Es
wurde eine Reihe von Verordnungen erlassen, die Ihnen dabei behilflich
sein sollen, eine Kollektion von Balken aus Ihren Augen zu entfernen,
die Ihre Wahrnehmungsfähigkeit empfindlich beeinträchtigen,
und die Sie dazu anstiften mögen, zu denken, anstatt sich mit
dem zeitüblichen Jargon abzufinden. Insonderheit wurden Sie dazu
aufgefordert, sich stets bewußt zu halten, daß jedwede
Kultur von unsresgleichen und nicht von Affen stammt, sintemalen Evolution
und Kulturgeschichte zwei grundsätzlich verschiedene Phänomene
sind, und daß gleichwelche naturwissenschaftliche Erkenntnisse
in einer spezifischen Terminologie verlautbart werden müssen,
nicht, weil Naturwissenschaftler besonders tückische Gesellen
wären, sondern weil unsere Sprache so wenig zur Wiedergabe naturwissenschaftlicher
Fakten taugt. Und da sind Sie erst einmal gebeten, sich über
Ihren eigenen Umgang mit der Sprache ein paar Gedanken zu machen,
wie etwa darüber, bis zu welchem Grade ein Kontext Ihre Rede
determiniert, d.h. wie viel Sie ungesagt lassen, weil in einem bestimmten
Kontext sich zahlreiche Wortbedeutungen von selbst verstehen. In einem
politischen Gespräch meint "der Vatikan" etwas anderes,
als wenn Kunsthistoriker von Gemälden reden, und in welchen Museen
sie hängen; politisch ist "das Pentagon" gründlich
verschieden von dem Pentagon, über das Mathematikhistoriker sprechen.
Darüber hinaus ist es erforderlich, sich darüber klar zu
sein, mit welcher Selbstverständlichkeit wir uns aller Arten
von "Projektionen" bedienen, in der stillschweigenden Annahme,
der Gesprächspartner werde das Nicht Gesagte in Gedanken ergänzen.
Wenn einer von "Radius" redet, verstehen Sie den Kreis gleich
mit; wenn einer sagt, die Sonne stehe jetzt in den Pisces binnen kurzem
aber werde sie im Aquarius stehen, so wird von Ihnen erwartet, daß
Sie ergänzen "am 21.März"; tun Sie das nicht,
wird Sie der Partner für unterbelichtet halten, und mit Recht.
(Die oft gebrauchte Redensart ist nichts desto weniger falsch: es
handelt sich nicht um "stehen in", sondern um den heliakischen
Aufgang von Pisces und Aquarius). Sie alle kennen die scherzhafte
Testfrage: "Was ist eine Wendeltreppe?" In 95 % der Fälle
malen die Befragten mit dem Zeigefinger eine Spirale in die Luft und
sagen äußerstenfalles: "die geht so". Wollten
Sie daraus den Schluß ziehen, 95 % Ihrer Mitmenschen wüßten
nicht, was eine Wendeltreppe sei, so wären Sie übel beraten.
Wenn aber die sprachliche "Erfassung" einer Spirale uns
schon zu schaffen macht, so läßt sich leicht ausmachen,
was für niederträchtige Schwierigkeiten jeder zu gewärtigen
hat, der sich in normaler Sprache über Kugeln mitteilen will,
über Winkel einander schneidender Großkreise und dgl. mehr.
Die entziehen sich unseren sprachlichen Absichten von vorneherein;
unseren zeichnerischen Absichten bekanntlich auch. Wir müssen
schlechterdings auf die Fläche projizieren, und der Betrachter
hat die unterschlagene Dimension in Gedanken zu ergänzen. Daran
sind wir gewöhnt, und auch daran sind wir gewöhnt, daß
größere, unhandliche Zeitspannen in kleinere hineinprojiziert
werden, und keiner denkt sich etwas dabei, wenn das Leben Christi
in ein Sonnenjahr gepfercht wird, wie das der Festkalender tut. Aber
der Tatbestand, daß die S a c h e der Naturwissenschaften aller
Zeiten und wo auch immer des Vehikels einer Fachsprache und des Prinzips
von Projektion bedarf, dieser Tatbestand wird geflissentlich übersehen;
die hinterlassenen Texte unserer fernen Vorfahren werden ganz buchstäblich
"beim Wort" genommen, und nichts wird in Gedanken ergänzt
und mitverstanden.
Bei
dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen beläufig nahelegen -
falls sie daran interessiert sein sollten, sich über die Diktatur
zu informieren, welche die Strukrut, will sagen : die Grammatik, der
indogermanischen Sprachen auf unser aller Denken ausübet - sich
in das opus von Benjamin
Lee Whorf zu versenken: Sprache Denken Wirklichkeit Rowohlt Verlag,
Hamburg 1963, S.122ff. Wir hatten dann über die richtigen Theorien
der kulturhistorischen Ethnologie, alias der Diffusionisten, und über
die falschen der Social Antbropology, alias der "independent
inventionalists" gesprochen und von Nutz und Frommen diverser
Indices von sog. Mythen Motiven, worinnen Sie jeweils nachschlagen
können, welches dieser "Motive", die man besser "Formeln"
nennte, wo vorkommt mit Literaturangaben, wie sich versteht.
Ende
der Ergänzung
Nehmen wir zwischenhinein mal ein kleines praktisches
Beispiel an die Reihe. Der griechische Mythos kennt ein göttliches
oder dämonisches Individuum namens Marsyas, und dieser Marsyas
war ein berühmter Flöten- oder Pfeifenbläser, der sich
in einem Anfall von Tollkühnheit auf ein Wett-Musizieren mit
dem Leier-Spieler Apollon einließ. Nach dem Urteil der göttlichen
Jury unterlag Marsyas in diesem "Quiz" und wurde zur Strafe
von Apollon geschunden, d.h. es wurde ihm die Haut abgezogen. (Der
Sieger Apollon zerbrach seine Leier in einer Anwandlung von Reue,
und eine neue Leier der Weltharmonie mußte beschafft werden).
In Mexiko gab es einen mächtigen Gott, genannt der Rote Tezcatlipoca,
u n d genannt Xipe Totee, d.i. "Unser Herr der Geschundenem".
Derjenige irdische Krieger, der dazu ausersehen war, während
eines ganzen Jahres den Roten Tezcatlipoca, alias Unseren Herren den
Geschundenen, darzustellen, der mußte während dieses Jahres
fortwährend Flöte blasen, bis zum Tage seiner Opferung.
Nun, was das rein historische Argument anlangt: falls Sie dafür
halten sollten, "the similarity of the working of the human mind"
bilde eine hinreichende Begründung für die Verbindung von
Schinden und Flöte blasen, so rate ich Ihnen, unverweilt das
Weite zu suchen und sich in das Heer der Social Anthropologists einzureihen.
Was unsere, darüber hinausgehende, spezifische Fragestellung
angeht, so ist uns mit der Annahme oder gegebenenfalls des Nachweises
eines historischen Zusammenhanges allein noch nicht gedient. Wir gehen
davon aus, daß wir es mit einer Kombination von Formeln zu tun
haben, die zu den konstituierenden Charakteristica eines sog."Gottes"
gehören, will sagen: eines Planeten. Im vorliegenden Falle ist
es für einen, der sein vergleichendes Material einigermaßen
kennt, nicht besonders schwer, den "Schuldigen" festzunageln:
es handelt sich um den Mars.
Auch mit dieser Feststellung ist noch nicht
viel Staat zu machen, aber Sie gewahren, worauf es prinzipiell ankommt:
Nachdem man rund ein Jahrhundert damit verbracht hat, ethnographische
Parallelen und Mythen-Motive zu registrieren und die Wanderwege festzulegen,
entlang denen sie verbreitet wurden, ist die Zeit gekommen, das Augenmerk
auf die Bedeutung der so emsig ausgebreiteten Kulturelemente
und sog. Mythenmotive zu richten und sich zu fragen, was denn eigentlich
"Tradition" meine, und warum eine Population von einer anderen
Kulturelemente und Mythen übernommen hat.
b13
Bei der Übernahme von Errungenschaften
wie dem Ackerbau, dem Reiten, der Metallurgie scheint der zureichende
Grund, in der Tat, auf der Hand zu liegen: diese Errungenschaften
sind eminent praktisch, wenn auch gesagt werden muß, daß
bei weitem nicht alle uns praktisch erscheinenden Methoden überall
adaptiert wurden oder werden; Sie brauchen da nur an die vieldiskutierten
heiligen Kühe, Ratten, Schlangen im heutigen Indien zu denken,
die einer, in unserem Sinne praktischen und vernünftigen Landwirtschafts-und
Ernährungspolitik im Wege stehen. Zu berücksichtigen ist
ferner, daß auch früher die Erfinder oder Besitzer von
ausgemacht nützlichen Techniken nicht darauf erpicht waren, ihre
Rezepte unter die Leute zu bringen: wenn die was wollten, sollten
sie gefälligst Fertigprodukte einhandeln. So scheinen es die
hurritischen Chalder vom Reiche Urartu im Kaukasus fertig gebracht
zu haben, ihr Rezept der Stahlfabrikation für eine beträchtliche
Zeit geheim zu halten.
Von besagten nützlichen Innovationen aber
abgesehen: Mythen und Kulte können schwerlich eines praktischen
Vorteils wegen übernommen worden sein. Warum haben sie dann aber
eine weltweite Verbreitung gefunden? Eines ist gleich im Vorhinein
zu betonen: i s t eine Tradition einmal akzeptiert, so bleibt sie
in der Regel, d.h. wenn keine umwälzenden politisch historischen
Störungen dazwischenkommen, unbefragt erhalten, auch wenn keiner
mehr weiß, was "es bedeuten soll". Ein Ihnen geläufiges
Beispiel: auch heute noch droht man unartigen Gören, sie kämen
nicht in den Himmel, wenn sie sich nicht besserten; keiner der also
Drohenden hat mehr eine Ahnung, was hinter dieser "Himmels"-
Konzeption steckt, die geradenwegs in das Jungpaläolithikum zurückzuverfolgen
ist. Einmal Akzeptiertes also dauert, aber warum sind überhaupt
irgendwann einmal anderer Leute Traditionen von ungezählten Populationen
akzeptiert und sanktioniert worden? Diese Frage muß von jedem
gestellt werden, der es sich abgewöhnt hat, mit Einfaltspinseln
und primitiver Wilden am Anfang einer Kultur zu rechnen, und es gibt
darauf wohl nur eine Antwort: diese Traditionen müssen, um erst
einmal adaptiert worden zu sein, etwas "geleistet" haben,
sie haben Sinn machen müssen. Nicht nur mußten sie imstande
sein, die Welt einleuchtend zu interpretieren, sie mussten darüber
hinaus dem Menschen seinen Platz in dieser Welt anweisen und ihm sein
Leben, wennschon nicht besonders leicht erträglich, so doch einsehbar
zu machen.
Solches vermag nur eine Kosmologie zu leisten,
und weil es an dem ist, war und ist weder dem Christentum noch dem
Kommunismus ein ähnlicher Erfolg beschieden, wie ihn der Verbreitungsbefund
der jungpaläolithischen und der Hochkultur bezeigt. Beide, nennen
wir sie bei dem irreführenden Wort "Weltanschauungen",
waren und sind auf Teilaspekte fixiert: die einen auf das Heil der
sog.Seele und auf die Moral, die anderen auf die Wirtschaft; beide
aber haben nichts anzubieten, was zum Verständnis des Weltganzen
und zu einer sinvollen Einordnung des Menschen in dieses Weltganze
beitragen könnte. Zu einem dauerhaften globalen Erfolg reicht
es bei beiden nicht, aber ein solcher ist heute wohl überhaupt
undenkbar geworden, weil es einen Kosmos nicht mehr gibt. Was die
heutigen Astrophysiker Kosmologie heißen, hat mit einem Kosmos,
wie man ihn Jahrtausende hinduch verstanden hat, beinahe nichts mehr
gemein. E i n bis zur Unkenntlichkeit geschrumpfter und verbeulter
Rest alter Kosmologie ist allerdings mitten unter uns in Ost und West
erhalten geblieben und scheint, allen energischen Anfeindungen zum
Trotz, nicht tot zu kriegen zu sein: die Astrologie.
Der langen Rede kurzer Sinn: Mythen müssen ernst genommen, Traditionen
auf ihre ursprüngliche Bedeutung hin untersucht und verglichen
werden, bei welchem Vergleich die Ergebnisse der kulturhistorischen
Ethnologie zu beherzigen sind, und zwar die der neueren Kulturhistorie,
über die noch ein paar Worte zu sagen sind, weil sich die Ansichten
über die consecutio temporum gewandelt haben.
Ende der Spielregeln
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